Deduschkas Salto

Wird er ihm am Ende noch gelingen?

 

Evgenij & Denis Panfilov

ISBN 978-3-7450-2689-4

 

Geboren bin ich am 20. Januar 1910 in Stanitsa Kazanskaya, Russland. So steht es in allen meinen Dokumenten. Allerdings stimmen beide Angaben nicht.

"Mögest du in interessanten Zeiten leben" – als hätte ihn dieser chinesische Fluch getroffen. Nicht, dass er in irgendeiner Weise etwas mit China zu tun hätte, aber jemand muss ihn verflucht haben, nicht unbedingt ein Chinese, denn wie es sich herausstellen sollte, wurde er in sehr interessanten Zeiten geboren.

So wie er nicht wusste, wann und wo er genau geboren wurde, würde er sein ganzes Leben lang irgendwie immer auf der Suche nach sich Selbst und seinen Ursprüngen sein.

Das Datum der Geburt ist nach dem alten julianischen Kalender berechnet. Nach dem Gregorianischen wäre es der 2. Februar 1910. Die zweite Angabe, die des Geburtsortes, stimmt auch nicht. Es war Tomaszów, in Polen, mit den ungefähren geographischen Koordinaten 51°30’ nördliche Breite und 20° östliche Länge. Als ich geboren wurde, war dieses Gebiet ein Teil von Russland.

Die falschen Angaben stammen von mir selbst. Ich gab sie 1920 an, als ich zehn Jahre alt war, in Ismailia, Ägypten. Dort sind Schüler des Donski Kadettenkorps, eines militärisch geführten Internats, als Flüchtlinge gelandet. Die Unterlagen mit den wahren Angaben sind während der Revolution verschwunden. Ich habe die Stanitsa Kazanskaya als Geburtsort angegeben, da ich wusste, dass mein Vater dort geboren wurde und mein Großvater dort sein Anwesen hatte.

...

Barba Sensatiun (Opa Sensation)

...

Gerade liefen die Vorbereitungen und Planungen für einen Sommerurlaub, es war irgendwie Mitte der achtziger Jahre, Deduschka lebte bereits einige Zeit im Haus der Kinder, als ihm Dimica eines Tages eine unerwartete Frage stellte: "Möchtest du mit uns ans Meer fahren?"

Deduschka antwortete nicht gleich mit einem kurzen "Nein", wie alle es erwartet hatten. Es war ja auch eine Frage, die einfach in den Raum gestellt wurde. Ohne Erwartungen. Keine richtige Frage. Eher eine rhetorische Frage. Die kurze, aber doch ohrenbetörende Stille bis zur Antwort, nur einige Sekunden später, ließ alle aufhorchen.

Auf einmal erwarteten alle das Unerwartete. Erwartungsgemäß oder unerwartungsgemäß, traf es auch ein. Deduschka hob seinen Kopf aus den gerade noch antwortsuchenden Gedanken. Er hob ihn mit einem leichten Lächeln. Einem, in den Mundwinkeln fast verstecktem Lächeln. Kaum sichtbar. Das kurze Aufleuchten der Augen hatte es verraten. Er blickte auf und antwortete langsam und bedacht – fast mit Erleichterung: "Schon seit dreißig Jahren hat mir niemand diese Frage gestellt. Und wie es scheint, wird es bald auch niemand wieder tun. Ja! Ich möchte mit ans Meer!"

Ugljan ist eine ruhige Insel in der Adria. Die ungefähren geographischen Koordinaten sind 44°8’ nördliche Breite und 15°6’ östliche Länge. Dort sollte Deduschka nach vielen Jahren wieder auf das Meer treffen. Im zarten Alter von etwa fünfundsiebzig Jahren. Es kann auch ein Jahr mehr oder weniger gewesen sein.

Mirko, Anđelkas Mann, nannten alle ehrenvoll Barba Mirko, oder in der Familie Dida, was auf dalmatinisch Opa hieß. Deduschka traf auf Dida. Dida war sehr froh darüber. Endlich war da jemand, zu dem Mirko aufschauen konnte, nicht nur vom Alter her. Deduschka kam aus dem "gelobten" Land, aus Slawonien, aus der Pannonischen Tiefebene, wo die Erde sehr reichhaltig, fett und schwarz war. Dort konnte man alles Mögliche anbauen. In Dalmatien war es schwer, dem kargen Boden etwas abzuringen. Einige weiße Karstfelsen hatte Dida in seinem kleinen Garten mit Dynamit weggesprengt, so dass er mehr von der für Dalmatien typischen roten und eisenhaltigen Erde hatte und somit auch mehr Pflanzen anbauen konnte.

Mit Stolz zeigte Mirko dem Gartenbauer aus Slawonien, was er alles Tolles in seinem Garten hatte. Deduschka musste verlegen lächeln. Viel war aus dem kargen Boden nicht heraus zu holen. Mirko hatte ähnliche Früchte wie Deduschka angebaut, doch waren diese wesentlich kleiner, als die, die er in Vukovar geerntet hatte. Ob er verlegen lächelte, weil seine Pfirsiche so viel größer waren als Mirkos, oder weil er sich an die noch größeren Pfirsiche in Büyükdere erinnerte, denen er in Vukovar nacheiferte. In seiner Erinnerung, mit Kinderaugen gesehen, waren diese türkischen Pfirsiche riesig. Zudem waren sie aus dem Nachbargarten, auch das ließ sie unvorstellbar groß und süß werden.

Vielleicht wurden ihm durch die relativen Unterschiede der Größe der Pfirsiche die Erinnerungen an die Kindheit in der Türkei wieder ins Gedächtnis gerufen. Vielleicht war es aber auch der süße Pinienduft vermischt mit der salzigen Meeresluft, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Den Duft kannte er aus Büyükdere. Lange hatte er diesen süß-salzigen Duft nicht mehr gespürt...

Mirko war einer der Einheimischen und stolz auf seinen Besuch. Und stolze Männer müssen prahlen. Schnell sprach sich im Dorf herum, dass Deduschka zu Besuch war. Normalerweise waren die alten Dorfbewohner unter sich, die Ureinwohner sozusagen, die hier das ganze Jahr über lebten. Wenn Besuch kam, dann über Sommer – das waren die Familien eines der älteren Dorfbewohner oder einige der wenigen Touristen, die sich auf die dünn besiedelte Insel, die nur mit einer Fähre erreichbar war, verirrt hatten. Jetzt kam tatsächlich ein alter Mann zu Besuch. Ein Neuzugang für die ältere Generation. Zudem noch einer, der sich total daneben benahm. Anscheinend lehnte dieser alte Opa es ab alt zu sein.

Öffentlich sah man den leisen Aufruhr nicht. Alles lief ab wie immer. Jeder kümmerte sich um seinen Kram. Doch die immer wachen und beobachtenden Augen eines kleinen Dorfes versteckten sich im Schatten, hinter Gardinen oder breiten Blättern eines Feigenbaumes, sie beobachteten alles sehr genau.

Es verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Opa Sensation nannten sie ihn – Barba Sensatiun.

Nicht ohne Grund.

Mirkos Haus war nicht direkt im Ort Ugljan, sondern ungefähr ein bis zwei Kilometer südöstlich, im Ortsteil Čeprljanda. Die Badestelle war gleich vor dem kleinen Hafen, der mit zwei versetzten Molen vor der Brandung geschützt war. Auf der Südseite der kleinen Bucht war eine kleinere Mole auf der Nordseite gegenüber, die äußere, etwas größere Mole. Neben dieser war eine leicht abfallende Stelle, an der zwischen die Felsen etwas Kies aufgeschüttet war, um den Badenden den Zugang zum Meer zu erleichtern.

Es war schon eine gute Woche vergangen. Seinen ersten Hunger nach dem Meer hatte Deduschka bereits gestillt, er schwamm etwas und ließ sich auf dem Rücken treiben.

Auf der größeren Mole standen Deduschkas Sohn und seine Enkel, die lustig von der ein Meter hohen Mole ins Meer sprangen. Deduschka stand daneben und beobachtete das Geschehen. Es waren noch zwei bis drei weitere örtliche Jugendliche dabei. Sie spielten ein Spiel, sie gaben sich Aufgaben, wie der jeweilige Sprung auszusehen hatte. Da waren einige lustige Figuren dabei und auch einige ordentliche Platscher. Nach dem Sprung kletterten sie dann an der Mole wieder herauf. An die Mole angelehnt lagen einige große Felsen, die zusammen so etwas wie große Stufen bildeten.

Dimica und die Enkel standen wie so häufig zuvor abtropfend an der einen Seite der Mole und überlegten sich wie der nächste Sprung aussehen sollte. Die Überlegungen hatten wohl etwas länger gedauert, denn Deduschka, der neben ihnen stand, nahm ohne jegliche Ankündigung Anlauf und machte einen Kopfsprung.

Dimica, Aljoša und Denis hatten etwas Zeit ihr Staunen mit Gelächter und lustigen Bemerkungen zu verarbeiten, während Deduschka wieder zur Mole schwamm und die große Felsentreppe hochkletterte. Der Sohn und die Enkel waren mittlerweile wieder etwas gefasst und fanden es im Grunde genommen toll. Die Enkel waren locker drauf und fanden es sogar lustig Drei-Generationen-Sprünge von der Mole zu machen. Wer hatte sonst noch so eine Gelegenheit. Sie machten Deduschka aufmerksam, dass er bei seinem Kopfsprung zu flach ins Meer getaucht war – gerade wie ein Brett, das müsste ja beim Aufprall wehtun. Und er solle beim Absprung etwas mehr Drehung hinzugeben.

Deduschka lächelte nur und sagte: "Bei meiner alten und schlecht durchbluteten Haut tut es nicht weh, es fühlt sich eher angenehm an, wie eine Massage."

Dagegen konnten die jüngeren nicht weiter argumentieren. Wenn es nicht weh tat... Es war ein schöner gerader Sprung, auch wenn der Einfallswinkel noch optimierbar gewesen wäre.

Deduschka ließ sich etwas Zeit, aber nach einiger Weile nahm er wieder Anlauf und sprang wieder seinen Köpfer. Da an dem Sprung nichts weiter auszusetzen war, fanden es alle anwesenden lustig und amüsierten sich.

Nach weiteren Sprüngen, gerade hatten sich alle an den "springenden" Deduschka gewöhnt, nahm er wieder Anlauf und sprang – zur Verwunderung aller Anwesenden – einen Salto.

Es war kein voller Salto, es war ein Dreiviertler, er platschte mit dem Rücken aufs Wasser auf. Es war aber eben doch – ein Salto.

Als er wieder über die Treppen auf die Mole stieg, standen alle noch verdutzt und mit offenem Mund da. Er gab sich Zeit, stand einfach da, lächelte verschmitzt und genoss den Augenblick. Dimica fasste sich als erster und ging auf ihn zu: "Deduschka, du kannst hier keinen Salto springen."

"Wieso nicht?" – auf diese Antwort war Dimica nicht gefasst, genauso wenig wie auf den Salto selbst. Da keine erneute Widerrede kam fügte Deduschka hinzu - "Als ich jung war bin ich täglich beim Turnen Salti gesprungen."

"Aber, genau darum geht es ja: Du bist nicht mehr jung. Du bist alt!" – versuchte Dimica rational zu argumentieren.

Ob es die Pfirsiche und die Relativität derer Größe auf Ugljan, in Vukovar und in Büyükdere war, die auch Deduschkas Alter relativierten? Der süße Pinienduft vermischt mit der salzigen Meeresluft und die springenden Jugendlichen, die Deduschka in seine eigene Jugend versetzt hatten? Dass er Jahre dazugewonnen hatte, musste doch nicht bedeuten, dass er an Vitalität verloren hatte. Zumindest etwas davon musste noch da sein. Und wie es schien, war davon tatsächlich einiges noch da.

Als Dimica sah, dass Deduschka nicht vorhatte, auf ihn zu hören, wandte er sich an die Enkel, Aljoša und Denis, ob nicht sie ihren Opa zur Vernunft bringen könnten. "Wenn er nicht auf Dich, seinen Sohn, hört, warum sollte er dann auf seine Enkel hören?" – war alles was diese antworteten.

Deduschka war alt, aber er fühlte sich nicht so alt, dass er sich und alle seine Wünsche aufgeben musste. Wo steht geschrieben, dass Alte nicht leben dürfen? Er war alt. Ja, das war er! Aber er wollte nicht wie so viele sich irgendwo auf eine Bank in den Schatten setzen, und warten, bis der Tod ihn holt. Er wollte das Leben fühlen... Das Leben leben...

Er sah, dass sein Sohn und seine Enkel nicht wussten, was sie ihm sagen sollten, aber dass sie dennoch irgendwie erwarteten, dass etwas gesagt werden sollte, also sagte er selbst etwas: "Was kann mir schon passieren, wenn ich ins Wasser falle? Knochen brechen, kann ich mir dabei nicht!"

Damit überzeugte er sie alle. Es war nur eine weitere Massage für seine alte verkrustete Haut, und wie es schien, ebenso für seine alte und vernarbte Seele.

Sein Alter ignorierte Deduschka nicht, er trotzte ihm.

...

Deduschkas Salto ISBN 978-3-7450-2689-4

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